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Suizidalität

Suizidalität (früher umgspr.: Lebensmüdigkeit) ist ein beinahe in allen Bereichen der Medizin vorkommendes komplexes Geschehen mit gesellschaftlich-kulturellen, individuell-psychologischen und medizinisch-biologischen Aspekten.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO gehören Suizide zu den größten globalen Gesundheitsproblemen. Im Jahr 2000 nahmen sich weltweit 815 000 Menschen das Leben, was einer Suizidrate von 14,5 pro 100 000 Menschen entspricht. Der Suizid gehört heute weltweit bei den 15-44-jährigen zu den drei häufigsten Todesursachen.

Ärzte gehören für suizidgefährdete Menschen zu den wichtigsten Ansprechpartnern. Entgegen einer landläufigen Meinung wendet sich ein hoher Prozentsatz derjenigen, die Suizidversuche unternehmen oder sich suizidieren, zuvor an einen Arzt.
Suizidalität tritt im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich häufiger bei Menschen mit psychischer Erkrankung auf, besonders bei Depressionen, Psychosen, Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit sowie Persönlichkeitsstörungen.
 

Was ist Suizidalität?


Alle Gedanken, Gefühle und Handlungen, die auf Selbstzerstörung durch selbst herbeigeführte Beendigung des Lebens ausgerichtet sind, sind unter dem Begriff der Suizidalität zu fassen.
Suizidalität lässt sich verstehen als Ausdruck der Zuspitzung einer seelischen Entwicklung, in der der Mensch hoffnungslos und verzweifelt über sich selbst, das eigene Leben und seine Perspektiven ist und seine Situation als ausweglos erlebt. Die Verzweiflung kann in Wut, Ärger und Hass umschlagen. Hinzu kommen Hilflosigkeits- und Schuldgefühle.
Die zentrale Angst besteht vor Verlust, und zwar sowohl vor dem Verlust wichtiger Menschen, als auch wichtiger Fähigkeiten und Aspekte der eigenen Person, wie zum Beispiel den bisherigen Lebensentwürfen oder der Fähigkeit, eigene Affekte und (suizidale) Impulse kontrollieren zu können.
Suizidale Phantasien können um den Wunsch zu sterben, den Wunsch nach Ruhe, nach einer Pause oder einer Unterbrechung im Leben kreisen. [1]
 

Diagnostik / Basisdiagnostik der Suizidalität


Es gibt keine Kriterien, die einen Suizid verlässlich voraussagen können, aber es gibt viele “Einschätzungsinstrumente” (ca. 50 - 90), viele davon werden fast nur in Studien verwendet und sind nicht alltagstauglich.
Beispiele für evidenzbasierte Einschätzungsverfahren der Suizidalität:
Fragebogen nach Pöldinger (1982)
NGASR-Skala
• Suicide Status Form II
• Reasons for Living Inventory (RFL)
• Scale for Suicidal Ideation (SSI)
 

NGASR-Skala

(Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, LWL Herten)

Die Nurses`Global Assessment of Suicide Risk–Skala (NGASR-Skala) ist eines der wenigen Instrumente, mit dem eine globale Einschätzung der Suizidalität vorgenommen werden kann.
Im Interrater Reliabilitätder Nurses‘ Global Assessment of Suicide Risk Scale Zeitschrift für Pflegewissenschaft und psychische Gesundheit, 2007, 1(1):17-26ISSN 1662-503X19deutschsprachigen Raum wurde die NGASR-Skala erstmals an den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD) auf einer gerontopsychiatrischen Station in der Praxis eingesetzt, nachdem sie ins Deutsche übersetzt worden war.

Die NGASR-Skala wurde von J.R. Cutcliffe und P. Barker in England entwickelt und besteht aus 15 Items, von denen jedes einen durch Studien nachgewiesenen Risikofaktor darstellt.
Für die 15 Items konnte eine ausreichende bis gute „externe Evidence“ festgestellt werden, die bei vier Items auchMetaanalysen umfasst (Depression, Psychose, Alkohol- und Substanzmissbrauch, terminale Erkrankung).
 

Die deutsche Version der NGASR-Skala

(Einschätzung der “Basissuizidalität”)

Vorhandensein/Einfluss von Hoffnungslosigkeit - 3 Punkte
Kürzliche, mit Stress verbundene Lebensereignisse z.B.: Verlust der Arbeit, finanzielle Sorgen, schwebende Gerichtsverfahren - 1 Punkt
Deutlicher Hinweis auf Stimmen hören/Verfolgungsideen - 1 Punkt
Deutlicher Hinweis auf Depression, Verlust an Interesse oder Verlust an Freude - 3 Punkte
Deutlicher Hinweis auf sozialen Rückzug - 1 Punkt
Äußerung von Suizidabsichten - 1 Punkt
Deutlicher Hinweis auf einen Plan zur Suizidausführung - 3 Punkte
Familiengeschichte von ernsthaften psychiatrischen Problemen oder Suizid - 1 Punkt
Kürzlicher Verlust einer nahe stehenden Person oder Bruch einer Beziehung3
Vorliegen einer psychotischen Störung - 1 Punkt
Witwe/Witwer - 1 Punkt
Frühere Suizidversuche - 3 Punkte
Vorliegen schlechter sozioökonomischer Verhältnisse z.B.: Schlechte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Armut - 1 Punkt
Vorliegen von Alkohol -oder anderem Substanzmissbrauch - 1 Punkt
Bestehen einer terminalen Krankheit - 1 Punkt
Mehrere psychiatrische Hospitalisationen in den letzten Jahren, Wiederaufnahme kurz nach der letzten Entlassung (nur in der deutschen VErsion) - 1 Punkt

Die Autoren der NGASR–Skala empfehlen zur Interpretation der Ergebnisse für den klinischen Gebrauch folgende Risikostufen:
0-5 Punkte = geringes Risiko;
6-8 Punkte = mäßiges Risiko;
9-11 Punkte = hohes Risiko;
12 und mehr Punkte = sehr hohes Risiko
(zu jedem Item existiert eine genauere Beschreibung, da die Einstufung teilweise Interpretationsspielraum läßt)

Der Pflegedirektor der LWL-Klinik Herten kommt zu der Einschätzung, dass auch ungeschulte Personen in 10 Min - 15 Min eine Einschätzung treffen können, routinierte Mitarbeiter schaffen das in 5 Min - 7 Min.

 

Pöldinger


Pöldinger unterscheidet drei Phasen:
1. Die Phase der Erwägung
2. Die Phase der Ambivalenz
3. Die Phase des Entschlusses

Die Phase der Ambivalenz
Der Konflikt wechselt zwischen Todessehnsucht und Angst vor dem Tod; Sehnsucht nach Liebe und Harmonie und Scham über das eigene Versagen; zwischen dem Wunsch nach Veränderung und der Ohnmacht, nichts ändern zu können.
Der Suizid wird evtl. sogar angekündigt, ausgesprochen als ein Hilferuf, es wird noch Kontakt gesucht. Die Distanzierungs- und Steuerungsfähigkeit ist eingeschränkt.


Fragebogen zur Abschätzung der Suizidalität nach Pöldinger 1982
Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, sich das Leben zu nehmen?
Häufig?
Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? Haben sich Selbstmordgedanken aufgedrängt?
Haben Sie konkrete Ideen, wie sie es machen würden?
Haben Sie Vorbereitungen getroffen?
Haben Sie schon zu jemandem über Ihre Selbstmordabsicht* gesprochen?
Haben Sie einmal einen Selbstmordversuch* unternommen?
Hat sich in Ihrer Familie oder ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis schon jemand das Leben genommen?
Halten Sie Ihre Situation für aussichts- oder hoffnungslos?
Fällt es Ihnen schwer, an etwas anderes als an ihre Probleme zu denken?
Haben Sie in letzter Zeit weniger Kontakte zu Ihren Verwandten, Bekannten oder Freunden?
Haben Sie noch Interesse daran, was in Ihrem Beruf und in Ihrer Umgebung vorgeht? Interessieren Sie noch Ihre Hobbies?
Haben Sie jemanden, mit dem Sie offen und vertraulich über Ihre Probleme sprechen können?
Wohnen Sie zusammen mit Familienmitgliedern oder Bekannten?
Fühlen Sie sich unter starken familiären oder beruflichen Verpflichtungen stehend?
Fühlen Sie sich in einer religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinschaft verwurzelt?

*es sollte nicht Selbstmord, sondern Suizid oder Selbsttötung benutzt werden



Quellen:

[1] Dtsch Arztebl 2003; 100(15): A-1004 / B-840 / C-785

Handbuch Suizidprävention Telefonseelsorge
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD) Bolligenstrasse 111, CH-3000 Bern 60info.dpp@gef.be.ch, www.gef.be.ch/upd
Thieme -  Umgang mit suizidalen Patienten
Thieme -Auf ein Wort... (LWL-Klinik Herten)
Deutsche DepressionshilfeDiagnostik der Suizidalität
The Nurses' Global Assessment of Suicide Risk (NGASR): developing a tool for clinical practice
Pöldinger W (1982) Erkennung und Beurteilung der Suizidalität. In: Suizid – Ergebnisse und Therapie. Reimer C (Hrg.) Springer, Berlin, Heidelberg, New York
Haenel, T. & Pöldinger, W. (1986). Erkennung und Beurteilung der Suizidalität. In K. P. Kisker et al. (Hrsg.). Psychiatrie der Gegenwart, Bd. 3. Krisenintervention, Suizid, Konsiliarpsychiatrie (S. 107-132). Berlin: Springer.

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